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27.05.2014

Neutronen entlocken Kristall die letzten Geheimnisse

poli-heidi2010 poli-heidi2010 © A. Voit, TUM

© A. Voit, TUM

Ba2CoGe2O7 ist ein intensiv dunkelblauer Kristall, den eine japanische Forschergruppe im Labor gezüchtet hat. Das Interesse der Wissenschaftler erweckt er aber nicht wegen seiner Farbe, sondern wegen seiner elektrischen und magnetischen Eigenschaften, denn er ist ein so genanntes Multiferroikum. In diesen Materialien ändert sich beim Anlegen eines elektrischen Feldes die magnetische Orientierung und umgekehrt. Interessant sind solche Materialien für neuartige Datenspeicher, die viel weniger Energie benötigen um Informationen zu speichern und zu lesen. Dass diese Substanzklasse existiert, war schon seit mehr als 100 Jahren bekannt, ihr Potential als neues Speichermedium aber erkannte ein japanischer Physiker erst 2003. In der Folge entdeckten weltweit Wissenschaftler viele neue Multiferroika und entwickelten verschiedene Theorien, um die Wechselwirkung zwischen Elektrizität und Magnetismus zu verstehen und sie damit besser für den Einsatzzweck optimieren zu können. Welche der theoretischen Modelle nun zutreffen, kann nur mit sehr aufwändigen experimentellen Messmethoden geklärt werden.

Einer internationalen Forschergruppe um Dr. Vladimir Hutanu ist es nun kürzlich gelungen, die magnetischen Parameter des Ba2CoGe2O7 -Kristalls am Neutronendiffraktometer POLI sehr viel genauer zu vermessen als das bisher möglich war. Dafür hat der in Garching forschende Wissenschaftler von der RWTH Aachen die so genannte 3D-Polarisationsanalyse mit heißen Neutronen angewendet. Diese Methode kann weltweit nur an zwei Orten durchgeführt werden, am ILL in Frankreich und eben am FRM II in Garching. Er benutzte zuerst unpolarisierte Neutronen, um die genaue Anordnung der Atome im Kristall zu bestimmen. Er fand heraus, dass der Kristall, anders als von vielen theoretischen Modellen angenommen, eher eine orthorhombische als eine tetragonale Symmetrie besitzt. Mit dieser Erkenntnis konnte er den Kristall mit polarisierten Neutronen analysieren und damit Informationen über Ausrichtung und Größe der elementaren magnetischen Momente von einzelnen ungepaarten Elektronen (sogenannten Spins) im Kristallgitter erlangen. Um an diese Informationen heran zu kommen, musste vorher das Domänenmuster entschlüsselt werden. Viele Kristalle bestehen aus baugleichen Bereichen (Domänen), die zueinander unterschiedlich orientiert sind und so die Gesamtenergie des Kristals minimieren. Im Ba2CoGe2O7 -Kristall gibt es Domänen, deren magnetische Momente jeweils senkrecht zueinander stehen. Erstmals konnte der Anteil jeder Domänenart im Gesamtkristall sowie deren Veränderung beim Anlegen eines magnetischen und elektrischen Feldes untersucht und genau bestimmt werden. Ohne ein Magnetfeld kommen alle Domänentypen gleich oft vor, daraus resultiert ein gesamtes Magnetmoment von null. Dieses Ergebnis steht aber im Gegensatz zu einer Theorie, die ein – wenn auch kleines – Gesamtmoment vorhersagte.

Ein anderer Theoretiker berechnete, dass ein enorm hohes Magnetfeld von etwa 1 Tesla (etwa 30 000 Mal höher als das Magnetfeld der Erde) nötig wäre, um nur eine einzige dieser kleinen Domänen über den gesamten Kristall zu schieben. Im Experiment fand die Forschergruppe aber etwas Überraschendes: Der Kristall reagierte sehr schnell auf die Änderung von Magnetfeld und bereits ein Zehntel der theoretischen Feldstärke genügte, um eine Eindomänenstruktur zu realisieren. Die 3D-Polarisationsanalyse zeigte, dass sich in Abhängigkeit von der Ausrichtung des Feldes nur ein bestimmter Domänentyp im Gesamtkristall einstellt. Die Feldstärke bleibt dabei aber gleich für alle Richtungen. Das wiederum bedeutet, dass auch die unterschiedlichen Domänen alle die gleiche Energie haben. Dieses Ergebnis an sich ist schon ein Novum, weil bis jetzt allgemein angenommen wurde dass diese Domänen (die so genannten antiferromagnetischen Domänen) bevorzugt auftauchen, sprich kleinere Energien haben als die senkrechten. Damit kann man mit relativ kleinen Feldern die unterschiedlichen Domänen ein oder ausschalten. Mit Hilfe dieser einzigartigen Versuche gelang es der Forschergruppe, experimentell nachzuweisen, dass nur eine der vielen Theorien zu den Messergebnissen passt.

Das aufwändige Experiment erforderte eine Vielzahl von Messungen unter extremen Bedingungen. Beispielsweise tritt der beobachtete Effekt nur bei sehr tiefen Temperaturen ein, in diesem Fall bei -266,5 ºC. Damit das Magnetfeld der Erde die empfindliche Messung nicht stört, muss es durch supraleitende Niobplatten abgeschirmt werden. Das Metall Niob ist nur supraleitend, wenn es mit flüssigem Stickstoff und flüssigem Heliumgas unter -264 °C gekühlt wird. Diese flüssigen Gase verdampfen aber schnell und deshalb müssen regelmäßig und sehr sorgfältig nachgefüllt werden. Die Polarisationsmessung erfordert vor und hinter dem Kristall jeweils einen Kolben mit einem speziellen Helium-Isotop, das aufwändig mit Lasern polarisiert wurde, so dass alle Gasmoleküle in die gleiche Richtung weisen. Alle Parameter müssen laufend überwacht werden, nur dann ist Verlass auf die Richtigkeit der Ergebnisse. Diese lüften dafür den geheimnisvollen Wechselwirkungsmechanismus von Magnetismus und Elektrizität auf der tiefsten mikroskopischen Ebene eines Kristalls wie Ba2CoGe2O7. Nun planen die Wissenschaftler ihre erfolgreiche Messmethode und ihr Wissen über Multiferroika auch an anderen vielversprechenden Verbindungen einzusetzen, um möglicherweise bald ähnliche Ergebnisse auch bei der Zimmertemperatur zu erzielen.

Die Ergebnisse sind in der renommierten Zeitschrift Physical Review B (Phys Rev B 89, 064403 (2014)) veröffentlicht.

Ansprechpartner:
Dr. Vladimir Hutanu
Tel: +49.(0)89.289.12153
E-Mail: vladimir.hutanu@frm2.tum.de

POLI
Tel: +49.(0)89.289.14828

Pressekontakt:
Christine Kortenbruck
Tel: 089.289.13893
E-Mail: Christine.Kortenbruck@frm2.tum.de

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