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20.08.2019
Nachruf auf Otto Schärpf, SJ
2019 ist Prof. Dr. Otto Schärpf, begnadeter Experimentalphysiker, Universalgelehrter und Priester im Orden der Jesuiten, im Alter von 89 Jahren von uns gegangen. In der Gemeinde der Neutronenstreuer hat er als Pionier der Polarisationsanalyse internationalen Ruhm erworben. Seit 1991 war er Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste.
Otto Schärpf wurde 1929 im nordbadischen Walldürn geboren. Nach dem Gymnasium wendet er sich erst der philosophisch-theologischen Ausbildung zu, die er im Jesuitenorden in Pullach (1951-1954) und Innsbruck (1955-1959) absolvierte, wobei ihn besonders die Lehren von Karl Rahner prägten. Nach der Priesterweihe 1958 absolviert Pater Otto Schärpf SJ von 1960 bis 1967 ein Physik- und Mathematikstudium in München. Mit der Habilitation 1977 an der Technischen Hochschule Braunschweig zum Thema „Verhalten der Neutronen beim Durchgang durch die Blochwand“ wendet sich Otto Schärpf den Neutronen zu. Nach seiner Habilitation arbeitete er zunächst als Dozent und dann als außerplanmäßiger Professor für Physik an der TU Braunschweig und am Forschungszentrum Karlsruhe, bevor er 1979 an das europäische Zentrum für die Forschung mit Neutronen, das Institut Laue-Langevin (ILL) in Grenoble, Frankreich, wechselt.
Dort hat er die Entwicklung polarisierter Neutronen maßgeblich vorangetrieben. Mit äußerst bescheidenen Investitionen, aber einem fast schon übermenschlichen Arbeitseinsatz, hat Otto Schärpf ein damals völlig neuartiges Instrument zur Analyse kalter polarisierter Neutronen realisiert. Voraussetzung hierfür war die Entwicklung von sogenannten Superspiegeln, metallische Vielfachschichten auf Glassubstrat, die kalte Neutronen großer Divergenz und nur einer Polarisationsrichtung reflektieren. Otto Schärpf hat die Herstellung dieser Superspiegel perfektioniert und daraus sogenannte Bender als Polarisatoren und Polarisationsanalysatoren kalter Neutronen gebaut, die wesentlichen Elemente seines neuartigen Neutronenstreuinstruments. Mit zahlreichen sorgfältig geplanten Experimenten hat er dann die sogenannte xyz-Methode der Polarisationsanalyse entwickelt, die es erlaubt, in einem Multidetektorinstrument die verschiedenen Beiträge zum Streuquerschnitt zu trennen und damit Zugang zu Korrelationsfunktionen zu erhalten, die sich direkt mit der Theorie vergleichen lassen. Damit waren völlig neue Erkenntnisse zugänglich zu so unterschiedlichen Fragestellungen wie die Bedeutung magnetischer Fluktuationen in Hochtemperatursupraleitern, die Mechanismen der Diffusion in Kondensierter Materie, Nahordnung in Weicher Materie, magnetische Nahordnung und Spin-Spin-Korrelationen in frustrierten magnetischen Materialien, zweidimensionale Quantenmagnete etc. Die Erfahrungen von Otto Schärpf mit polarisierten Neutronen und seine Superspiegelanalysatoren waren darüber hinaus in der Kernphysik gefragt und etwa entscheidend für Präzisionsmessungen zum Beta-Zerfall von Neutronen.
Die Arbeiten von Otto Schärpf sind ein schönes Beispiel dafür, wie methodische Entwicklungen völlig neue Einsichten möglich machen. Sie haben die polarisierten Neutronen „hoffähig gemacht“. Auf Grundlage seiner Vorarbeiten nutzen heute am Heinz Maier-Leibnitz Zentrum (MLZ) in Garching und am ILL eine Vielzahl von Neutronenstreuinstrumente polarisierte Neutronen und tragen entscheidend dazu bei, dass Europa und Deutschland auf dem Gebiet der Forschung mit Neutronen weltweit führend sind.
Otto Schärpf war einer der wenigen Universalgelehrten der Moderne. Er konnte seine naturwissenschaftlich-mathematische Arbeit gut mit seiner philosophisch-theologische Prägung verbinden. Wenn von den Physiker-Kollegen die Frage nach der Rolle der Religion aufgeworfen wurde, hörte man von Otto Schärpf, dass für ihn Gott hinter allem steht, ihn zu diesen Dingen hinführt und „was er will geht immer leicht, selbst das Schwerste geht da leicht“. Diese Einstellung hat Otto Schärpf einen ungetrübten Optimismus verliehen, der enorm ansteckend war. Er war ein froher Mensch, der mit seinem heiteren Lachen Freude am Leben ausgestrahlt hat. Und als Theologe hat er Anteil am Leben vieler seiner Physikerkollegen genommen und sie bei einschneidenden Ereignissen wie Heirat, Taufe, Trauerfeier als Priester begleitet. Nach seiner Emeritierung in Grenoble hat er sich wieder verstärkt der Theologie zugewandt. Er ist nach München zurückgekehrt und hat sich der Aufarbeitung von Aspekten der Geschichte des Jesuitenordens und der philosophischen Thesen Karl Rahners gewidmet, neben der Pflege des Gartens und der Wartung des Computernetzwerks des Jesuitenordens.
Das gemeinsame Experimentieren mit Otto Schärpf war immer eine große Herausforderung, aber auch eine enorme Bereicherung. Eine Herausforderung, da er keine festen Arbeitszeiten kannte; er war der erste am Instrument und blieb bis tief in die Nacht, immer rührig und man musste sich ins Zeug legen, um bei seinem Tempo und Arbeitseinsatz mitzuhalten. Eine Bereicherung, da man viel von ihm lernen konnte, nicht nur zum aktuellen Experiment, sondern im angeregten Disput zu allerlei naturwissenschaftlichen und philosophischen und theologischen Fragen. Er hat niemals die scheinbar unumstößlichen Lehrmeinungen einfach so akzeptiert, sondern alles kritisch hinterfragt, ob beim Experiment, in Diskussionen oder in Seminaren. Oft wurde den Kollegen dadurch erst bewusst, dass manches was man als gegeben akzeptiert hat, sich doch nicht so einfach darstellt.
Mit Otto Schärpf verliert die Physik einen genialen Experimentator, einen fordernden Lehrer, kritischen Geist und warmherzigen, optimistischen Menschen. Er war ein Original, wie es in der heutigen Zeit nur noch wenige gibt, da das Wissenschaftssystem angepasstes Verhalten fördert und „Exoten“ wie Otto Schärpf eher abstraft. Oft sind es aber gerade diejenigen, die sich nicht an die vorgegebenen Normen halten und vom ausgetretenen Pfad abweichen, die die wahrhaft wichtigen Durchbrüche erzielen. Wir werden Otto Schärpf als genialen Physiker, liebenswürdigen, umtriebigen und fröhlichen Menschen in ehrendem Andenken halten.
Thomas Brückel, Forschungszentrum Jülich, Juelich Centre for Neutron Science JCNS und Peter Gruenberg Institut PGI
Thomas Keller, Max Planck Institut für Festkörperforschung, Stuttgart
Winfried Petry, Technische Universität München, Physik Department und Forschungsneutronenquelle Heinz Maier-Leibnitz (FRM II)
Helmut Schober, Institut Laue Langevin, Grenoble
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